Max R. P. Grossmann

Was ist das Antidot gegen normative Verknappung?

Posted: 2024-05-26 · Last updated: 2024-08-22

Abstrakte Prinzipien haben für sich genommen keinen Effekt auf die Realität. Sie wirken stets nur indirekt, indem sie das konkrete Denken und Handeln von Individuen beeinflussen. In der Gestaltung von Institutionen ist es unumgänglich, einem hohen Formalismus zu frönen, der notwendigerweise abstrakt-theoretische Erwägungen einschließt. In dieser Gestaltung werden konkrete Erwägungen nur schemenhaft wahrgenommen; sie determinieren, wie erwünscht die Umsetzung bestimmter, vorgeschlagener Prinzipien ist.

In einem vorherigen Blogpost habe ich ausgeführt, wie Werte ganz reell umgesetzt werden. Doch die Analyse war damit natürlich noch nicht abgeschlossen. Tatsächlich handelt es sich nämlich um einen Kategoriefehler, abstrakte Prinzipen auf konkret-reeller Ebene anzugreifen. Betrachten wir erneut das Verbot von ex-post-facto-Normen (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB). Es besteht kein Zweifel darin, dass dieses Verbot im Moment vor allem sehr schlechte Menschen goutiert. Populisten und andere beschwören gern, wie viel mehr „Gerechtigkeit“ wir auf der Welt hätten, wenn man nur die Richtigen einknasten könnte! Doch auf dieser Basis kann das abstrakte Prinzip, dass rückwirkend keine neuen Strafnormen eingeführt werden dürfen, nicht angegriffen werden. Es wäre auch nicht ganz richtig, zu sagen, dass in der Abwägung zwischen Rechtssicherheit und dem Übel, schlechte Menschen zu goutieren, ersteres halt obsiegt hätte. Dies ist nämlich nur eine Beschreibung des tatsächlichen Vorgangs der Wahl zwischen abstrakten Prinzipien; das Verbot von ex-post-facto-Normen verliert dadurch nicht die ihm per se inneliegende Eigenschaft, eine bestimmte Gruppe von Individuen pauschal zu bevorzugen. Es ist also erforderlich, zwischen der Auswahl aus Prinzipien und den objektiv-positiven Charakteristika von Prinzipien zu unterscheiden.

Als Wissenschaftler trage ich rein positiv (d.h., deskriptiv) zum Diskurs bei. Hierbei ist es mir, wie jedem anderen Menschen, möglich, unbeabsichtigte Auswirkungen von echten institutionellen Bedingungen darzustellen. Diese Auswirkungen können gut oder schlecht sein. Doch diese Tätigkeit darf nicht mit der oben genannten Auswahl aus Prinzipien verwechselt werden. Reelle Effekte informieren die objektiv vorhandenen Eigenschaften von verschiedenen Arrangements, seien sie institutionell, personell oder natürlich. Doch daraus folgt eben gerade nicht, ipso facto, dass eine bestimmte Politik oder ein bestimmtes Prinzip nun umzusetzen sei. Weder obliegt es mir, noch bin ich berechtigt, als Wissenschaftler eine Art „Gesamtabwägung“ vorzunehmen. Selbstverständlich ist jeder frei darin, Forschungsergebnisse zum eigenen Formen von Gesamtabwägungen zu verwenden. Doch dies ist grundsätzlich nicht meine Aufgabe.

Dass Gesamtabwägungen nötig sind, ist eine unangenehme Wahrheit, die seit allen Zeiten wiederhallt. Fakten ersetzen sie nicht. Trade-offs sind echt. In der Wahl zwischen Prinzipien, die für institutionelle Gestaltung relevant sind, ist daher erforderlich, die zentrale Rolle von legitimer Gesamtabwägung zu betonen. Es gibt für diese Gesamtabwägung keinen Referenzpunkt; es gibt keine Wahrheit; es gibt keine falsifizierbaren Thesen, keine Hypothesentests. Es handelt sich um rein normative Erwägungen, die auf einer fundamentalen Ebene nicht überprüft werden dürfen. Es stellt sich nur die Frage, wer dieses Privileg des Letztentscheiders normativer Prinzipien erhalten möge.

In einer repräsentativen Demokratie nehmen Politiker diese Gesamtabwägungen vor, obwohl der Wähler der Letztentscheider bleibt. Und Gesamtabwägungen sind sehr unangenehm. Wähler sind vermutlich dankbar, dass sie damit nicht konfrontiert werden. Gesamtabwägungen machen Trade-offs sichtbar; Einbußen in manchen Dimensionen, die man gegenüber den Letztentscheidern gern verbirgt. Eine einfache Möglichkeit ist die Einrichtung von übergeordneten Gremien, auf die Entscheidungen abgeladen werden können. Durch die Deklaration der Befolgung dieser Entscheidungen als bindend ist es möglich, die kognitive Belastung mit entscheidenden normativen Fragen zu umgehen; die Schuld für Trade-offs kann auf die höheren Gremien geschoben werden. Eine Politik kann so als exogen vorgegeben kommuniziert werden; der eigene Anteil an ihr bleibt im Schatten. Es gibt in dieser Rochade aber mindestens ein Problem. Denn die Gremien, die mit der übergeordneten Bearbeitung von schwierigen Sachverhalten beschäftigt sind, sind notwendigerweise von Menschen besetzt. Menschen, die ihre eigene normative Prägung haben. Wie diese Prägung in die Empfehlungen von Gremien einfließt, bestimmt sich nach den Spielregeln dieser Gremien. Und die Spielregeln, nach der Gremien arbeiten, unterliegen in aller Regel nur ihrer eigenen Selbstkontrolle. Es wird nur eine scheinbare Objektivität hergestellt.

Im kontinentaleuropäischen Rechtskreis existiert die Vorstellung, das Recht wäre in irgendeiner Weise „objektiv“. Das gilt trotz der Ironie in der zügellosen Feier der „Formel“ Gustav Radbruchs, die in Wirklichkeit einzig Ausdruck seines höchstpersönlichen und folgenschweren intellektuellen Versagens ist. Allein schon der Fakt, dass das menschlich gesetzte, positive Recht, in offiziellen Quellen nachzulesen ist, entbindet den Rechtsanwender nicht vom Vertrauen in eigene Heuristiken und geprägte Auffassungen anderer. Dies gilt in der Auslegung von Gesetzestexten und in der Anwendung der Auslegung; zwei Schritte, die nur scheinbar getrennt sind. Die damit einhergehende fundamentale Unsicherheit lässt Raum für Vorurteile, Wertvorstellungen und – natürlich – Fehler. Jedenfalls unterscheidet sich eine Volksabstimmung nicht fundamental von einem Gerichtsverfahren. In der Tat fragt man sich, wie Regeln wie der § 263 StPO notwendig sein können, wenn das Recht doch so völlig objektiv ist! Das Recht hat selbst im bestmöglichen Fall keinen objektiven Charakter, und dies ist auch jedem Menschen, der kein Interesse an gegenteiligen Darstellungen hat, offensichtlich. Am Ende liegt nur die Frage, welche Menschen richten. Doch dass es Menschen sind, daran kann kein Zweifel bestehen. Das Abladen normativer Erwägungen auf Gremien wie Gerichte oder internationale Organisationen ist eine Verschiebung von Menschen auf andere Menschen, von Prozessen auf andere Prozesse und von Anreizen auf andere Anreize.

Die politische Ökonomie dieser Machtverschiebung kann an dieser Stelle nicht hinreichend analysiert werden. Von zentraler Wichtigkeit ist aber die Erkenntnis, dass hier eine Machtverschiebung stattfindet. Gibt man z.B. die Entscheidung darüber, ob in einem Gebiet Kriegsverbrechen vorliegen, an ein internationales Gericht ab, werden normative Erwägungen eben gerade nicht vermieden. Sie werden nur an einer Stelle abgebaut und an einer anderen Stelle wieder aufgebaut. Dort, wo sie aufgebaut werden, herrscht oft keine Kontrolle mehr. Die Einhaltung abstrakter Erwägungen ist nicht mehr sichergestellt und – darüber hinaus – auch nicht mehr sicherzustellen.

Der Versuch von Politikern, realpolitische Entscheidungen durch die Einschaltung scheinneutraler Institutionen zu objektivieren, muss abgelehnt werden. Mit ihm geht eine Deligitimation des demokratischen Prozesses einher. Das Primat des Volkes in der Formulierung normativer Prinzipien kann nicht aufgehoben werden, ohne die Demokratie selbst zu entkernen, Widerspruch zu ersticken und Macht in letzter Konsequenz total zu monopolisieren. Damit geht keine Aussage über die Richtigkeit oder Falschheit von demokratischen Entscheidungen einher. Ein Vorteil des demokratischen Systems liegt in den Kontrollmöglichkeiten gegenüber den Mächtigen. Wenn die Mächtigen unkontrollierbar werden, stirbt die Demokratie. Akzeptieren wir doch stattdessen, dass Werte wichtig sind und verhandeln wir direkt über sie, anstatt uns hinter anderen zu verbergen.